Erinnern Sie sich an den ersten Film, den sie im Musey Kino gesehen haben? Was bedeutet das Moskauer Filmmuseum für Sie?

Während meines Studiums in Paris, New York und München waren die Cinematheken da mein zu Hause. Ich hatte dort tolle Erlebnisse mit Filmen und Menschen. Da ich zur Zeit des Eisernen Vorhanges im Westen in einer Familie von Exil-Russen aufgewachsen bin, war russischer Film mir wichtig. Doch das war ein Teil russischer und sowjetischer Kultur, der im Westen schwer zugänglich war. Ich war immer auf der Suche nach zeitgenössischen russischen Filmen. Von Freunden hörte ich viel über das Musey Kino. Ich wollte es immer besuchen, aber ich lebte in den 90er Jahren in Deutschland. Den Skandal des „Rauswurfs“ des Musey Kino habe ich durch die Presse verfolgt.

Als ich 2009 nach Moskau zog, war das Musey Kino bereits heimatlos. Der erste Film, den ich dort sah, war eine Vorführung von Eisensteins „Die Generallinie“. Die Vorstellung fand in dem sogenannten Kulturzentrum „Mossoviet“ im Norden Moskaus statt, in einer wenig belebten Gegend. Das ist ein riesiger, heute etwas verkommener Bau, der zu sowjetischen Zeiten ein prunkvolles Kino beheimatete. Jetzt werden dort Tango- und Judokurse angeboten. Die Vorstellung fand in einem winzigen Zuschauersaal statt; direkt vor dem Saal wurde Tango getanzt, es waren ungefähr 15 Zuschauer da. Der Ort wirkte auf mich deprimierend. Der Film wurde von Naum Kleiman vorgestellt. Er sprach so leidenschaftlich, klug und humorvoll über den Film, ich vergaß die Tangomusik und das schäbige Kino. Für mich war „Die Generallinie“, den ich irgendwann in einem Filmseminar gesehen hatte, bis dahin schwer zugänglich. Durch die Perspektive von Naum Kleiman erwachte er zu einem energiegeladen, experimentierfreudigen und sehr inspirierenden Film.

Wie haben Sie Naum Kleiman kennengelernt?

Freunde hatten mir viel von ihm erzählt, und ich wollte ihn unbedingt kennenlernen; mein Mann arbeitete mit ihm. Eines Abends besuchten wir ihn in der Eisenstein-Wohnung, die völlig versteckt im Zentrum von Moskau liegt. Naum Kleiman hat eine besondere Art, sich für Menschen zu interessieren, ich fühlte mich sofort willkommen. Es gab Tee in Eisensteins Wohnzimmer und tolle Geschichten von Naum Kleiman – für mich der Beginn eines Austausches, den ich fortsetzen wollte.

Naum Kleiman verwaltet den Nachlass Sergej Eisensteins. Welche Stellung nimmt Eisensteins Vermächtnis heute in der russischen Kultur ein?

Viele sehen Eisenstein als sowjetischen Propaganda-Regisseur oder als Teil einer vergangenen Geschichte, Schnee von gestern. Leute, die sich nicht mit Film beschäftigen, haben keine Ahnung davon, dass es mitten in Moskau die Eisenstein-Wohnung gibt, niemand interessiert sich dafür. Was vielen nicht bewusst ist: Die sowjetische Ästhetik dieser Zeit, die Filme von Eisenstein, die Fotos von Rodchenko, beeinflussen die Medien weltweit bis heute. Die Bildgestaltung in der Werbung, vor allem in Russland, nutzt z.B. die Art von Bildkompositionen, die Eisenstein erfunden hat – und natürlich seine Montagetechnik.

Wann entstand die Idee, einen Dokumentarfilm über das Filmmuseum zu machen?

Cinematheken auf der ganzen Welt laden Naum Kleiman ein – in Moskau will ihn niemand haben. Vor der Eisenstein-Wohnung müssten die Leute eigentlich Schlange stehen, doch niemand interessiert sich dafür. Mir erscheint die ganze Geschichte bis heute unglaublich. Darum wollte ich sie im Film erzählen.

CINEMA: A PUBLIC AFFAIR scheint ein Abbild der heutigen russischen Gesellschaft. Wo aber liegen, jenseits von Gut-Böse-Mustern, die Zwischentöne und Hoffnungen der russischen Gesellschaft?

Erst einmal: Der Film bedient keine Gut-Böse-Muster. Es geht um die Vision eines Mannes und seines Umfeldes. Wenn man Mitarbeitern des Museums begegnet, können sie sehr unscheinbar wirken. Sie legen überhaupt keinen Wert darauf, sich zu verkaufen. Sie engagieren sich für das, woran sie glauben, ohne viel Aufhebens darum zu machen. Für mich sind sie Helden. Es gibt viele solche Menschen in Russland, die man, obwohl sie sehr klug und engagiert sind, kaum wahrnimmt. Sie sind für mich die Hoffnung der russischen Gesellschaft.

Naum Kleiman bleibt immer auch Optimist. Woher nimmt er das Vertrauen?

Wenn der Zuschauer des Films sich am Ende des Films diese Frage stellt, ist das für mich ein schönes Geschenk. Sie ist vielleicht wichtiger als die Antwort.

Wie haben Sie selber den kulturellen Wandel in Moskau seit 1989, den auch Naum Kleiman und viele Protagonisten im Film beschreiben, erlebt?

Meine persönliche Erfahrung hier ist begrenzt, denn ich habe in dieser Zeit in Deutschland gelebt und die Wende in Russland vor allem durch Besuche bei Freunden dort erlebt. Es war eine Zeit des Schreckens, der Not und der Hoffnung, gleichzeitig eine Ära großer künstlerischer Freiheit – alles schien möglich. Bis heute ist die Zeit nach der Wende für viele Russen sehr ambivalent.

Wie sieht ganz aktuell die Situation für das Filmmuseum, die Sammlung Sergej Eisenstein und Naum Kleiman aus?

Die Kündigung der Mitarbeiter geht weiter, der Prozess scheint noch nicht abgeschlossen zu sein. Die Eisenstein-Wohnung wurde im November von der Europäischen Filmakademie zum Weltkulturerbe erklärt. Doch das nützt momentan noch nicht viel. Naum Kleiman kämpft jetzt darum, ein internationales Eisenstein-Zentrum zu gründen. Ob ihm das gelingt, steht noch in den Sternen. Auch diese Idee ist von vielen Kräften bedroht. Ich würde mir wünschen, dass ein cinephiler Oligarch ihm für dieses Eisenstein-Zentrum ein Gebäude in Moskau schenkt.

CINEMA: A PUBLIC AFFAIR ist weitgehend ohne Verleih, TV-Sender und Förderung entstanden. Wie konnten Sie den Film trotzdem realisieren?

Die Recherchen zu dem Film begannen bereits 2009. Das Projekt erhielt Entwicklungsförderung. Obwohl die Produzentin Katrin Springer und ich danach alles versucht haben, um Produktionsgelder zu finden, erhielten wir unglücklicherweise nur Absagen. Gleichzeitig wurde die politische Lage in Russland immer angespannter. Die Bedrohung für die Arbeit Naum Kleimans und die Situation des Musey Kino wuchs. Wir beschlossen, den Film mit minimalem Budget unabhängig zu realisieren. Da ich Kamera- und Schnittausrüstung besitze, war das möglich. Deshalb habe ich alleine gedreht, mit der Unterstützung von Kameramann Martin Farkas, der mehrmals nach Moskau kam.

War Naum Kleimans jüdische Herkunft jemals Thema in Ihren Gesprächen – und gar in seiner Arbeit?

Ich denke, unsere Herkunft und Kindheitserfahrungen wirken immer, bewusst oder unbewusst, auf unsere Lebensgestaltung und Ziele. Darum war es mir wichtig, die Erzählungen von Naum Kleiman über seine Erlebnisse von Vertreibung und Repression in den Film zu integrieren. Doch seine Verbindung zum Judentum lässt sich im deutschen Kontext schwer beschreiben. In Deutschland ist die Perspektive auf Judentum und jüdische Menschen bestimmt durch den Holocaust, das kann gar nicht anders sein. Jüdische Menschen in Russland sind von anderen Erfahrungen geprägt. Naum Kleimans Erlebnisse von Vertreibung und Repression sind sicher Teil seiner jüdischen Identität, aber ich denke, genau so sehr auch Teil seiner Prägung als Sowjetbürger.